Während einige Geschäftsbereiche große Veränderungen auf S/4HANA erfahren, ändert sich in Sales nach S/4HANA-Migration auf den ersten Blick nicht viel. Wenn der Business User sich im System anmeldet, sieht für ihn alles fast wie vor S/4HANA aus. Doch gerade damit alles wie früher aussieht, waren viele Änderungen notwendig.
Viele User nutzen nach dem Umstieg auf S/4HANA nach wie vor das SAP GUI als Frontend, während Fiori eher die User anspricht, die das System erst kennenlernen – das betrifft also meistens eine Greenfield-Implementierung.
Änderungen im System, die für den GUI-Anwender nicht oder kaum sichtbar sind, können unter Umständen trotzdem mit erheblichem Aufwand verbunden sein, beispielsweise dann, wenn im System umfangreiche benutzerdefinierte Entwicklungen vorhanden sind. Grund dafür ist, dass entfallende Tabellen, geänderter Belegfluss, Feldlängenänderungen und weitere Änderungen im kundeneigenen Programmcode zu berücksichtigen sind. Sind die Sales-Prozesse weitestgehend im Standard abgebildet, funktioniert die Umstellung dagegen mehr oder weniger automatisch und ohne großen Aufwand.
Während die Änderungen mit S/4HANA im normalen Vertriebsprozess auf den ersten Blick kaum ersichtlich sind, ändert sich im Außenhandel einiges: Nicht nur werden die Funktionen des klassischen Foreign Trade (SD-FT) in S/4HANA durch das ähnlich positionierte, aber neu implementierte International Trade ersetzt. Auch zeigen sich Datenmodelländerungen in der Form, dass außenhandelsrelevante Informationen weniger in den Vertriebsbelegen gehalten, sondern nur noch bei Bedarf hinzugelesen werden. Und damit nicht mehr so leicht fallweise angepasst werden können.
Darüber hinaus sind manche Funktionen wie beispielsweise die Pflege von Zolltarifnummern nicht mehr innerhalb der klassischen Stammdatenobjekte wie dem Materialstamm verfügbar, sondern nur noch über spezielle Fiori-Apps möglich.
Verlagerte Funktionalitäten wie beispielsweise SAP Credit Management (FI-AR-CR) oder Erlösrealisierung (SD-BIL-RR) können einen erheblichen Projekt- und Schulungsaufwand verursachen, da die bisherigen Lösungen in S/4HANA nicht mehr unterstützt werden und dort alternative Lösungen ihren Platz eingenommen haben. In manchen Fällen, etwa beim Credit Management, existieren Migrationswerkzeuge, die die Umstellung unterstützen. In anderen Fällen wie beispielsweise der Verlagerung der Präferenzkalkulation in das externe System SAP GTS handelt es sich um eine vollständige Neuimplementierung.
Sind keine von Verlagerung betroffenen Funktionalitäten im Einsatz, fallen keine Zusatzarbeiten an.
Eine Änderung, die bereichsübergreifend ist, betrifft die Kunden und Lieferanten: Diese werden in S/4HANA zwingend zu Business Partnern. Die Umwandlung kann vor oder während der Migration stattfinden, jedoch empfiehlt sich in den meisten Fällen die Umstellung auf das Geschäftspartnermodell im Vorfeld.
Die größte Veränderung in S/4HANA ist die Verfügbarkeit von SAP Fiori Apps – auch wenn es nicht notwendig ist, sofort auf die neue Technologie umzusteigen – bis auf wenige Ausnahmen, die den Einsatz von Fiori zwingend verlangen. Fiori hat eindeutige Vorteile gegenüber dem GUI: Beispielsweise ist die Listbreite der Auswertungen an den Bildschirm angepasst, was deutlich leserfreundlicher ist als die Darstellung im GUI. Das neue Fiori-Design ist auch sehr benutzerfreundlich, da die Anzeige teilweise reduziert wurde und im Vergleich zum GUI weniger Informationen beinhaltet, diese aber mit grafischen Elementen unterstützt übersichtlicher darstellt.
In Fiori werden keine Transaktionen mehr verwendet, sondern Apps, die dem Benutzer berechtigungsabhängig zugewiesen werden. Übersichts-Apps wie „Sales Overview“ geben direkt beim Start der Anwendung einen umfassenden Überblick über die wichtigsten Kennzahlen im Vertrieb und erlauben einen Drilldown auf die Detailebene, wenn es erforderlich ist. Das ist deutlich übersichtlicher uns intuitiver als im transaktionalen Modell des SAP GUI.
Advanced ATP stellt zusätzliche Lösungen zur Verfügung, die in der klassischen ATP-Prüfung und teilweise auch in SAP APO nicht vorhanden sind. Die Lösung deckt Bereiche von der Kontingentierung über Produktverfügbarkeitsprüfung bis hin zur Freigabe der Lieferung ab. Besonders hervorzuheben ist der Verfügbarkeitsschutz, der mit Release 2020 On-Premise erstmals veröffentlicht worden ist und Reservierungslogiken für bestimmte Kundengruppen und/oder Organisationsstrukturen auf flexible Weise abbildbar macht.
Zu den Neuerungen im Bereich der Verfügbarkeitsprüfung gehört auch das neue Verfügbarkeitskontrollbild im Kundenauftrag, das in Kombination mit Advanced ATP seine volle Funktionsvielfalt zeigt, aber auch mit der klassischen Verfügbarkeitsprüfung kombiniert werden kann:
Im Vergleich zur früheren Darstellung, die manuell positionsweise durchlaufen werden musste, erhält man im neuen Verfügbarkeitskontrollbild eine viel bessere Übersicht über alle Positionen in einer gemeinsamen grafischen Darstellung.
Eine weitere lang erwartete Neuerung in S/4HANA ist die Workflow-unterstützte Genehmigung von Sales-Dokumenten. Nach Erfassung eines Vertriebsbelegs – sei es ein Angebot, ein Kundenauftrag oder eine Gutschriftsanforderung – wird dieser gesperrt und per Workflow an die zuständige Person weitergeleitet. Aus der Fiori-App "My Inbox" heraus genehmigt der Prüfer den Beleg und dieser wird weiter prozessiert.
Die Integration von SAP EWM (Extended Warehouse Management) in S/4HANA hat ebenfalls einen deutlichen Einfluss auf den Vertriebsprozess. Im Gegensatz zum klassischen WM verlagern sich viele Prozesse wie teilweise Belegdruck, HU-Verwaltung und andere in das EWM. Auf der einen Seite schränkt das die Möglichkeiten des Benutzers ein, im Lieferbeleg noch während des Kommissionierens und Verpackens Einfluss zu nehmen. Auf der anderen Seite steht nun der weit umfangreichere funktionale Umfang des EWM für die Versandaktivitäten zur Verfügung.
BRFplus wurde zeitgleich mit SAP ERP entwickelt, aber nicht sehr oft genutzt. Jetzt wird es für die Nachrichtenfindung und in kundenspezifischen Projekten vermehrt verwendet:
Ein Vorteil der Lösung ist, dass hier ohne zusätzliches Coding nur durch das Zusammenstellen von Regeln die gewünschten Entscheidungsfindungslogiken im System abgebildet werden können. Dies ist häufig besser lesbar und kann sogar eine positive Auswirkung auf die Systemperformance haben, da hier zur Laufzeit keine Tabellenzugriffe mehr notwendig sind.
Bedarfs- und Bestandssegmentierung kommt aus der Modebranche und ist bereits seit einiger Zeit in SAP ERP als Business Function verfügbar. Jetzt ist sie in S/4HANA für einen breiteren Anwenderkreis sichtbar. Bei Bedarf können Bedarfssegmente (Kunden, Kundengruppen) und Bestandssegmente (Zugänge, Bestände) definiert und einander zugeordnet werden. Die ATP-Prüfung berücksichtigt die Bedarfs-/Bestandssegmente als neue Ebene in der Verfügbarkeitsprüfung.
Auf diesem Weg ist es möglich, Reservierungslogiken für bestimmte Kunden oder Kundengruppen im System zu hinterlegen und bestimmte Bestände/Zugänge für diese Kunden zurückzuhalten.
Viele Änderungen in S/4HANA betreffen den IT-Bereich, selbst wenn die Umstellung auf S/4HANA eine reine Migration und für den Anwender kaum ersichtlich ist. In erster Linie sind die Änderungen den neuen Technologien geschuldet, die in S/4HANA integriert sind. So muss sich die IT-Abteilung beispielsweise im Fiori mit neuen Berechtigungskonzepten und dem Rollenkonzept des Fiori-Launchpad auseinandersetzen, und der gestiegenen Bedeutung von Netzwerkperformance in der Kommunikation zwischen SAP-System und Browser. Auch das Debuggen wird komplexer, da neben dem Backend-System der Browser mit seinen Fiori-Oberflächen berücksichtigt werden muss.
Datenbereitstellung über hierarchische View-Strukturen und Aufbau und Betrieb servicebasierter Schnittstellen sind weitere Themenfelder, die im klassischen ERP-Umfeld kein Bestandteil typischer IT-Tätigkeit waren.
Darüber hinaus entfällt in S/4HANA in einigen Bereichen, beispielsweise im Umfeld des Advanced ATP, das Transportieren von Änderungen. Stattdessen werden flexible Möglichkeiten zur Konfiguration und zum Upload und Download von Daten direkt in jedem System angeboten. Auf der einen Seite kann dies organisatorische Veränderungen mit sich ziehen, denn in solchen Fällen wird der IT-Mitarbeiter unter Umständen gar nicht mehr benötigt. Auf der anderen Seite kann dies dazu führen, dass Funktionen in jedem System der Systemlandschaft (Entwicklung, Test, Produktion) anders aussehen, was die Systembetreuung und Fehleranalyse nicht unbedingt erleichtert.
Nach der S/4HANA-Migration ändert sich für den Business User auf den ersten Blick nicht viel, was die meisten Nutzer wohl freuen wird. Die neue und in vielen Fällen sehr nützliche Fiori-Oberfläche ist in den meisten Fällen kein Muss. Neue und langersehnte Funktionalitäten wie beispielsweise die Genehmigung von Sales-Dokumenten stehen ohne zusätzliche Kosten zur Verfügung und erleichtern enorm das Tagesgeschäft, andere wie das Advanced ATP können bei Bedarf zusätzlich lizensiert werden. Jedoch ergeben sich große Veränderungen für den IT-Bereich, da S/4HANA auf neuen Technologien basiert und andere Kenntnisse als im klassischen IT-Betrieb erfordert. Mehr zu diesem Thema erfahren Sie in unserem kostenfreien Webinar am 28.07.2023.